Wenn in einem Krankenhaus nach veralteten Methoden therapiert wird nennen wir das gewissenlos. Im Fitnessstudio ist es das Standardverfahren.
Das glaubst Du nicht?
Schau Dir einige der heute noch hochheiligen Trainingsrichtlinien an und Du wirst merken, dass einige davon ihren Ursprung in den ’40er und ’50er Jahren des letzten Jahrhunderts haben.
Das war die Zeit, als Männer zur Behandlung von Prostatakrebs kastriert wurden und Ausdauersport für Frauen als gesundheitsschädlich galt.
Tragische Tatsache ist, dass viele der alten Trainingsempfehlungen zwar schon längst wissenschaftlich widerlegt sind, aber dennoch weiterhin durch sogenannte Fitness-Profis empfohlen werden.
Es ist ziemlich wahrscheinlich, dass Du immer noch nach einer dieser veralteten Methoden trainierst. Das heißt, Dein Trainingsplan ist reif für eine Renovierung nach den neuen Normen des 21. Jahrhunderts.
Oh, und es heißt nicht, dass Dein aktuelles Training nicht bei vielen Menschen funktioniert.
Gib einem Anfänger ein schweres Gewicht, lass es ihn wieder ablegen, nun wieder von vorne – er wird Fortschritte machen. Ist das die effektivste Methode? Sicher nicht.
Durchleuchte Dein Training mit dem Blick fürs Detail, schmeiß‘ die alten Trainingsfehler raus und ersetze sie durch die neuen Normen. So wirst Du mehr in kürzerer Zeit erreichen können – und zugleich das Risiko senken, dass Du Dich verletzt.
Vielleicht markierst Du Dir den heutigen Tag in Deinem Kalender – er könnte das Verfallsdatum Deines bisherigen Trainingsplans bedeuten.
Muskel-Mythos Nr. 1: Der effektivste Satz besteht aus 8-12 Wiederholungen
Behauptung: Diese Anzahl an Wiederholungen ist optimal für Muskelaufbau.
Ursprung: Im Jahr 1954 publizierte der englische Chirurg und Bodybuilder Dr. Ian MacQueen einen wissenschaftlichen Artikel, in dem er diese moderate Anzahl Wiederholungen für Muskelwachstum propagierte.
Wahrheit: Mit diesem Ansatz setzen wir unsere Muskeln für einen mittleren Zeitraum einer mittleren Last aus. Damit gehen gleichzeitig Vor- und Nachteile für den Muskelaufbau einher.
Das sagt die Wissenschaft heute: Hohe Muskellast – also schwerere Gewichte – führt zu Muskelwachstum, indem die Muskelfasern sich vergößern und damit auch die Kraft ansteigt. Eine längere Belastungsdauer führt andererseits dazu, dass die Strukturen, die das Muskelgewebe mit Energie versorgen effektiver werden – die Ausdauer steigt. Die klassische Variante, 8-12 Wiederholungen durchzuführen, stellt einen Kompromiss zwischen den beiden dar. Wenn Du immer mit dieser Wiederholungszahl trainierst, wirst Du niemals die Kraft- und Muskelzuwächse erreichen können wie mit hoher Last und weniger Wiederholungen und auf der anderen Seite auch nicht die Ausdauer erreichen wie es mit niedrigerer Last und mehr Wiederholungen möglich ist.
Neue Norm: Variation heißt das Zauberwort – indem Du Deine Wiederholungszahl wechselst, stimulierst Du alle Wachstumsmechanismen in Deinem Muskel. Eine gute Möglichkeit: führe drei Ganzkörpertrainings pro Woche durch, an jedem Tag variierst Du die Wiederholungsanzahl.
Deine Workout-Routine sieht dann beispielsweise so aus:
- Montags: schwere Gewichte, 4-6 Wiederholungen
- Mittwochs: mittlere Gewichte, 10-12 Wiederholungen
- Freitags: leichte Gewichte, 20-22 Wiederholungen
Trainiere für einen Monat nach diesem Verfahren. Wenn Du zuvor immer 8-12 Wiederholungen gemacht hast, wirst Du schnell echte Fortschritte feststellen.
Muskel-Mythos Nr. 2: Absolviere 3 Sätze pro Übung
Behauptung: Nur so kann der Muskel ideal ausgelastet und die schnellsten Muskelzuwächse erreicht werden.
Ursprung: Der Arzt Thomas DeLorme veröffentlichte im amerikanischen Fachjournal „The Archives of Physical Medicine“ im Jahr 1948, dass 3 Sätze zu je 10 Wiederholungen beim Aufbau von Beinkraft ebenso effektiv sind wie 10 Sätze zu je 10 Wiederholungen.1
Wahrheit: Grundsätzlich spricht nichts dagegen 3 Sätze zu machen, da ist keine Magie im Spiel. Aber die Anzahl der Sätze sollte auch nicht durch eine Standard-Empfehlung aus der Nachkriegs-Ära bestimmt werden. Besser ist die folgende Faustregel: je mehr Wiederholungen Du in einem Satz durchführst, desto weniger Sätze benötigst Du und umgekehrt. Damit bleibt die Gesamtanzahl an Wiederholungen wenn Du alle Sätze zusammenzählst in einem vergleichbaren Rahmen, egal wie viele Wiederholungen die einzelnen Sätze beinhalten.
Neue Norm: Wenn Du 8 und mehr Wiederholungen durchführst, sind drei oder weniger Sätze ausreichend. Wenn Du weniger als drei Wiederholungen durchführst, solltest Du wenigstens sechs Sätze absolvieren.
Muskel-Mythos Nr. 3: Optimal sind 3-4 Übungen pro Muskelgruppe
Behauptung: Nur so stellst Du sicher, dass alle Fasern des Muskels optimal trainiert werden.
Ursprung: Arnold Schwarzenegger, 1966.
Wahrheit: So sehr ich Arnold mag, für uns gibt auch ein Leben außerhalb des Fitnessstudios. Und die Zeit, die Du hier verschwendest, kannst Du Dir sparen. Was steckt dahinter? Schwarzeneggers Empfehlung aus der Mitte des letzten Jahrhunderts wird in der Regel mit dem eben diskutierten „8-12 Wiederholungen“-Mythos kombiniert. In Summe kommst Du locker auf bis zu 144 Wiederholungen pro Muskelgruppe. Meine Meinung dazu: wenn Du mehr als 100 Wiederholungen pro Muskelgruppe schaffst, trainierst Du nicht hart genug.
Je härter Du trainierst, desto kürzer kannst Du die Belastung aufrechterhalten. Denk an das Marathonlaufen: Dein Tempo beim 100 m Sprint wirst Du selbst dann, wenn Du fit wie ein Turnschuh bist unmöglich auf der 42 km Strecke durchhalten können. Und das musst Du auch nicht: Den entscheidenden Wachstumsreiz für die anvisierte Muskelgruppe hast Du in dem Moment gesetzt, wo Deine Leistung im Krafttraining spürbar nachlässt.
Neue Norm: Anstelle Dich auf eine bestimmte Anzahl verschiedener Übungen pro Muskelgruppe zu versteifen, nimm Dir eine Gesamtanzahl von 25-50 Wiederholungen pro Muskelgruppe vor. Das kann einerseits bedeuten, dass Du 5 Sätze á 5 Wiederholungen einer Übung absolvierst, andererseits kannst Du auch 2-3 verschiedene Übungen zu je 1 Satz mit 15 Wiederholungen durchführen (Summe: 30-45 Wiederholungen).
Muskel-Mythos Nr. 4: Die Knie dürfen die Zehen niemals überschreiten
Behauptung: Wenn Deine Knie – z.B. bei Kniebeugen oder Ausfallschritten – zu weit nach vorne wandern, wirken gefährliche Scherkräfte auf Deinen Bandapparat um das Kniegelenk.
Ursprung: Eine Studie der Duke University aus dem Jahr 1978 fand heraus, dass die auf das Knie wirkenden Scherkräfte beim Kniebeugen reduziert werden, wenn die Unterschenkel möglichst senkrecht zum Boden gehalten werden.2
Wahrheit: Zu weites Nachvornelehnen führt tatsächlich eher zu einer Knieverletzung, wie auch in einer Studie der Universität Memphis im Jahr 2003 bestätigt wurde, bei der die Knie beim Kniebeugen über die Zehenspitzen hinaus bewegt werden durften – die Verletzungsrate erhöhte sich um knapp 30 %. Als die Wissenschaftler danach ihnren Fokus weg vom Knie auf den ganzen Körper lenkten, stießen sie jedoch auf einen brisanten Gegeneffekt: Die Last auf das Hüftgelenk erhöht sich nämlich auf das nahezu 10-fache, wenn die Vorwärtsbewegung des Kniegelenks unterbunden wird. Das hängt damit zusammen, dass wir bei der Kniebeuge unseren Rumpf weiter nach vorne lehnen müssen, wenn wir die Unterschenkel senkrecht halten wollen. Was 1978 also nicht betrachtet wurde, sind die zusätzliche Belastung auf die Hüfte und deren weiteren Auswirkungen: die Kräfte werden nämlich aus der Hüfte an den unteren Rücken weitergegeben – und dort treten Verletzungen deutlich häufiger auf als an den Knien.
Neue Norm: Konzentriere Dich lieber auf den Oberkörper als auf die Position Deiner Knie. Konkret solltest Du beim Kniebeugen (und übrigens auch bei Ausfallschritten) darauf achten, dass Dein Oberkörper so aufrecht wie möglich ist. Dadurch sinkt die Belastung Deiner Hüften und Du schonst Deinen Rücken. Zwei Tipps für das aufrechte Stehen: Ziehe deine Schulterblätter zusammen, bevor Du die Kniebeuge beginnst, und halte sie in dieser Position. Achte darauf, dass Deine Unterarme während der Kniebeuge senkrecht zum Boden bleiben.
Muskel-Mythos Nr. 5: Bauch einziehen!
Behauptung: Indem Du Deinen Bauch während der Übung einziehst, stützt Du Deine Wirbelsäule und senkst das Risiko für Rückenverletzungen.
Ursprung: Dieser Mythos ist relativ jung, er stammt aus dem Jahr 1999. Damals fanden australische Forscher heraus, dass Sportler mit Rückenbeschwerden ihre transversale Bauchmuskulatur – ein Teil der tiefen Bauchmuskeln, die für die Stabilisierung der Wirbelsäule mitverantwortlich ist – bei Kraftübungen zu spät aktivierten. Daraufhin empfahlen viele Fitnesstrainer ihren Kunden, den Bauchnabel bei den Kraftübungen in Richtung der Wirbelsäule einzuziehen, um diesen Teil der Bauchmuskulatur zu aktiveren.
Wahrheit: „Die Forschungsergebnisse der Australier stimmten zwar, nicht aber die Schlussfolgerungen und Interpreatationen der Trainer und Experten.“, sagt Prof. Dr. Stuart McGill der kanadischen University of Waterloo, an der ich ein Jahr lang studieren durfte. Er ist als einer der weltweit angesehensten Wissenschaftler auf dem Gebiet der menschlichen Wirbelsäule und Autor des Buches Low Back Disorders. Die Ursache liegt darin, dass die verschiedenen Muskelgruppen wie ein Top-Team zusammenarbeiten um die Wirbelsäule zu stützen. Je nach Übung übernehmen dabei andere Muskelgruppen die führende Funktion. Die transversale Bauchmuskulatur ist also nicht immer der Mannschaftskapitän.
Tatsächlich ist es in jeder Übung so, dass Dein Körper ganz automatisch diejenigen Muskeln aktiviert, die für die Stützfunktion der Wirbelsäule notwendig sind. Wenn Du Dich nur auf Deine transversale Bauchmuskulatur konzentrierst, kann das zu einer Überbeteiligung dieser Muskelgruppe führen – auf Kosten der anderen Beteiligten und eventuell wichtigeren Mitspieler. Damit erhöhst Du nicht nur Dein Verletzungsrisiko, Du wirst auch weniger Gewicht stemmen können.
Neue Norm: Wenn Du etwas für die Stabilisierung der Wirbelsäule tun möchtest, spanne Deine Bauchmuskeln einfach an ohne sie einzuziehen – so als würdest Du einen Schlag in die Magengegend erwarten. Dadurch werden alle drei Ebenen der „Abdominalen Wand“ aktiviert, wie McGill sie beschreibt, was sowohl Deine Stabilität als auch Deine Leistung fördert.
Fazit
Nimm Dir am besten gleich Deinen aktuellen Trainingsplan zur Hand und überprüfe ihn auf die 5 Altlasten. Jetzt weißt Du, wie Du zukünftig noch effektiver trainieren kannst und gleichzeitig Verletzungen vermeidest.
Was möchtest Du ändern? Was sind Deine Erfahrungen mit veralteten Trainingsregeln (auch im Ausdauersport), die sich hartnäckig halten?