Wie entstehen Ernährungsirrtümer?
Menschen, die viel fernsehen, sind dicker. Wissenschaftlich belegt. Macht Fernsehen also fett?
Falls ja, wie? Könnte der Fernseher eine mysteriöse „Fett-Erzeugungs-Strahlung“ aussenden, die Deine Zellen in einen Extrem-Speicher-Modus umschaltet?
Klingt ziemlich weit hergeholt, oder? Die Wahrheit ist: Fernsehen selbst macht nicht fett. Dennoch kommen Rückschlüsse dieser Art überraschend oft vor.
Gut, wenn Du einen Bullshit Detektor hast, der funktioniert.
Tückische Rückschlüsse: So entstehen Ernährungsirrtümer
Wie hängen Fernsehen und Übergewicht nun wirklich zusammen?
Dass fernsehende Menschen schwerer sind, ist nicht auf den TV-Konsum zurückzuführen. Die Ursache liegt darin begründet, dass diese Menschen als Gruppe …
- mehr sitzen,
- aus Gewohnheit beim Fernsehen essen und
- weniger auf ihre Gesundheit achten.
Der Fernsehkonsum ist nicht die Ursache, er ist ein Symptom.
Das heißt, Fernsehen und Übergewicht fallen zwar zusammen (Korrelation), aber Fernsehen ist nicht die Ursache für das höhere Körpergewicht (Kausalität). In der Wissenschaft nennt man dies den Unterschied von Korrelation und Kausalität:
Korrelation ≠ Kausalität
Wenn Korrelation und Kausalität miteinander verwechselt werden, entstehen Mythen. In den Medien findest Du diesen Fehler leider regelmäßig. Im Marketing von Wunderpillen oder magischen Fitnessprogrammen wird eine Korrelation gerne als Kausalität verkauft.
Wenn Du solche Aussagen gezielt hinterfragst, wird Dir dieser Fehler zukünftig schnell auffallen.
Die folgenden 4 Mythen entstehen, wenn Korrelation und Kausalität verwischen.
Irrtum #1 – Schokolade macht schlank
Spiegel, Süddeutsche, Shape & Co. berichteten kürzlich, Schokolade mache laut einer neuen Studie schlank. Die Wissenschafter stellten allerdings nur fest, dass die untersuchte Gruppe der Schokoladenesser schlanker war als eine Vergleichsgruppe, die keine Schokolade aß.1
Die Studie belegt also eine Korrelation. Wer den Artikel liest und den Unterschied zwischen Korrelation und Kausalität nicht kennt, interpretiert den Text allerdings schnell als „Schokolade macht schlank“.
Schokolade als Fatburner – ich mag den Gedanken!
Leider bleibt er ein Mythos. Dass der Schokoladenkonsum die Ursache dafür ist, dass die Menschen schlanker blieben, ist nämlich in der Studie nirgendwo erwähnt – es kommen unzählige andere mögliche Ursachen infrage, die in der Studie allerdings nicht beobachtet wurden. Eine solche Nachricht lockt allerdings weniger Leser an…
Irrtum #2 – Du kannst es regnen lassen
Wenn Menschen Regenschirme aufspannen, regnet es – zuverlässig. Das heißt, wenn Du es regnen lassen möchtest, müsstest Du einfach nur Deinen Regenschirm aufspannen … und los geht’s?
🙂
Dennoch werden Korrelation und Kausalität bei komplexeren Zusammenhängen selbst in Fachzeitschriften und unter Wissenschaftlern (zu) oft miteinander verwechselt.
So entstehen Mythen, so entstehen unsichtbare Skripte.
Irrtum #3 – Restaurantessen macht dick
Menschen, die viel auswärts essen, nehmen leichter zu. Aber nehmen sie leichter zu, weil sie auswärts essen?
Nein.
Es gibt Menschen, die regelmäßig in Kantinen und Restaurants essen und sehr schlank und fit sind. Korrelation bedeutet in diesem Fall folgendes: Wenn wir alle Menschen, die im Restaurant essen, als Gruppe betrachten, dann nehmen sie statistisch betrachtet zu – und zwar aus folgenden Gründen:
- Restaurantessen hat oft eine höhere Energiedichte als selbst zubereitete Mahlzeiten.
- In vielen Restaurants sind die Portionen größer als zu Hause.
- Beim Essen in Restaurants ist die Versuchung höher, Vorspeisen, Softdrinks, Delikatessen und Desserts zu essen.
Die Antwort lautet also, nein! Wenn Du im Restaurant eine bewusste Entscheidung triffst, kannst Du so oft auswärts essen, wie Du willst und dabei schlank bleiben.
Irrtum #4 – Spät abends essen macht dick
Auch zu dieser Frage gibt es viele Studien. Menschen, die spät am Abend essen, sind eher übergewichtig. Macht ein Late-Night-Dinner also automatisch dick?
Zum Glück nicht.
Aber Menschen, die abends mehr essen, essen oft nebenher – z.B. beim Lesen oder … Fernsehen. Dabei essen sie eher Lebensmittel mit einer hohen Kaloriendichte – Chips, Gummibärchen, etc.
Ob sie wohl schlanker wären, wenn sie mehr Schokolade äßen…? 😉
Ernährungsirrtümer aufdecken: 4 psychologische Fallen und wie Du sie umgehst
Wenn Du weißt, dass Korrelation und Kausalität oft miteinander verwechselt werden, kennst Du bereits eine der Hauptursachen für verwirrende Ernährungsirrtümer.
Daneben gibt es vier weitere psychische Fallen, in die Du tappen kannst. So erkennst und umgehst Du sie.
Falle #1 – Herdentrieb
Ernährungsirrtümer verbreiten sich in der digitalen Welt schneller als je zuvor: Du glaubst, was Du glaubst, weil die Menschen um Dich herum es auch glauben.
Psychologen nennen das „sozialen Beweis“. Und es ist oft sinnvoll, wenn Du Ansichten, die sich in der Gruppe „bewährt“ haben, einfach übernimmst. Es ist auch bequem, weil Du nicht aneckst.
Aber was ist, wenn die Gruppe sich irrt? Was, wenn jeder sein Verhalten seinem Gegenüber anpasst? Mitläufer laufen mit Mitläufern mit und nur wenige denken für sich selbst. (Deswegen haben Mitläufer nur selten ein Sixpack.)
Empfehlung: Hinterfrage die gängigen Meinungen. Ein Gedankenexperiment hilft Dir: „Was wäre, wenn ich das Gegenteil täte wie die meisten Menschen …? Was, wenn das Gegenteil wahr wäre …?“
Falle #2 – Autoritäten und „Gurus“
Experten sollten wissen, wovon sie sprechen. Aber woran machst Du fest, dass das der Fall ist?
Fitness Experten wird häufig alleine wegen ihres tollen Körpers geglaubt. Und ich mag den Gedanken, dass Menschen das praktizieren was sie predigen. Aber leider garantiert eine gute Figur alleine keine Kompetenz: Viele schlechte Ratschläge kommen von Menschen, die gut aussehen. Das Gleiche gilt für andere Autoritäten wie Ärzte, Professoren, Wissenschaftler oder Prominente, denen viele Menschen alleine aufgrund ihres Status Glauben schenken. Es gibt sogar einige, die einfach dafür bekannt sind, bekannt zu sein…
Jeder noch so gebildete Mensch kann aus verschiedensten Gründen voreingenommen sein. Besonders skeptisch solltest Du sein, wenn Experten eine Gegenleistung für ihre Äußerungen erhalten – zum Beispiel, weil sie mit ihrem Namen für ein bestimmtes Produkt werben.
Empfehlung: Lass‘ den Expertenstatus nicht als erstes Beurteilungskriterium durchgehen. Fakten zählen mehr als Autorität. Natürlich solltest Du einem Mentor zuhören, wenn Du ihm vertraust und ihn respektierst. Aber Du solltest seine Aussagen auch hinterfragen und nach Fakten suchen.
Falle #3 – Einzelberichte
Vorher-Nachher-Fotos. Welche Diät und welches Fitnessprogramm belegt seine Versprechungen nicht mit dieser Art von Einzelberichten? Ganz klar, diese Bilder beeindrucken und überzeugen potenzielle Kunden.
Einen wissenschaftlichen Beweis liefern sie allerdings nicht. Die Aussagekraft ist vergleichbar mit der Geschichte eines Freundes, der Dir sagt: „Im Fitnessstudio war dieser Typ, der erzählte mit einem afrikanischen Beerenblütenextrakt 30 Kilo abgenommen zu haben.“
Außerdem ist es einfach, Vorher-Nacher-Fotos zu fälschen.
Empfehlung: Selbst wenn es keine Belege geben sollte, die wissenschaftlichen Standards entsprechen – bilde Dir ein Urteil darüber, wie vertrauenswürdig die Quelle ist. Versuch, die Erfahrungsberichte immer aus erster Hand und nicht über ein paar Ecken zu bekommen.
Falle #4 – Bestätigungsfehler
Wir sehen, was wir glauben. Dein Unterbewusstsein bewahrt Dich vor einem Overkill an Informationen, indem es permanent Informationen löscht oder umprogrammiert. Bei diesem Vorgang spielen Deine derzeitigen Glaubenssätze (unsichtbare Skripte) eine entscheidende Rolle.
Psychologen nennen dieses Phänomen „Bestätigungsfehler“: Wir suchen Informationen, die unsere unsichtbaren Skripte bestätigen und blenden aus, was ihnen widerspricht.
Warum?
Umdenken kostet Energie – und Dein Gehirn ist permanent darauf bedacht, seinen Energieverbrauch zu minimieren. Mit fast 20% des Grundumsatzes ist es einer der größten Energiefresser Deines Körpers. Denken „auf Autopilot“ ist viel bequemer. Werbung nutzt dieses Verhalten, um vorhandene Glaubenssätze ihrer Zielgruppe zu belegen – notfalls mit einzelnen handverlesenen wissenschaftlichen Studien, die nicht zwangsläufig den Stand der Forschung wiedergeben (so genanntes „Rosinen-Picken“).
Empfehlung: Viele Menschen hören auf, nachzufragen, sobald sie die erste Information finden, die ihre Vorannahme bestätigt. Wenn Du an dieser Stelle weiter aufmerksam bleibst und Deine Überzeugungen ab und zu hinterfragst, bleibst Du offen für Neues.
Buchtipp: Schnelles Denken, langsames Denken
Vermutlich hast Du schon festgestellt, dass diese psychischen Mechanismen nicht nur Ernährungsirrtümer oder Muskelaufbau-Mythen festigen, sondern alle Lebensbereiche betreffen.
Wenn Du die Verhaltensweisen Deines Unterbewusstseins kennst, kannst Du psychische Fallen erkennen, umgehen und bist weniger anfällig für Manipulation von außen.
Die Idee zu diesem Artikel bekam ich bei der Lektüre des faszinierendes Buches „Schnelles Denken, Langsames Denken“ von Daniel Kahneman. Der Nobelpreisträger lüftet unter anderem das Geheimnis, welche Macht unser Unterbewusstsein („schnelles Denken“) auf unser Verhalten hat und wie wenig Kapazitäten wir im Alltag tatsächlich besitzen, um unser Verhalten bewusst zu steuern („langsames Denken“). Kahneman erklärt die überraschenden Zusammenhänge anhand vieler ungewöhnlicher Studienergebnisse und Alltagsbeispiele.
In diesem Fall habe ich mir das Buch von Kahneman selbst vorlesen lassen, während ich laufen war (man gönnt sich ja sonst nichts). Ich habe die englische Ausgabe über mein Audible Abo geladen.
Fazit
Für Deinen Bullshit Detektor wurden 5 Updates installiert. Die neuen Funktionen im Überblick:
- Bug Fixes: Du kennst den Unterschied zwischen Korrelation und Kausalität. Wenn in einem Bericht wieder einmal aus einer Korrelation eine Kausalität gemacht wird, erscheint vor Deinem inneren Auge ein Popup mit dem Titel „Unsinn“.
- Verbesserte Synchronisation: Du hinterfragst allgemeine Ansichten und suchst nach weiteren Fakten, wenn Du feststellen solltest, dass Du etwas nur deswegen glaubst, weil alle es tun.
- Sicherheitslücke geschlossen: Nur weil XYZ etwas sagt, muss es nicht stimmen. Fakten zählen mehr als Autorität und Du suchst nach Fakten.
- Allgemeine Fehlerbehebungen: Einzelberichte sind zwar eindrucksvoll, aber kein wissenschaftlicher Beweis. Wenn Du Einzelberichte heranziehst, dann aus erster Hand.
- Verbesserung der Performance: Du verstehst, dass Dein Unterbewusstsein gerne Behauptungen glaubt, die Deinen derzeitigen unsichtbaren Skripten entsprechen. Bevor dieser Mechanismus das nächste Mal greift, leuchtet die rote „Bullshit“ Warnlampe und Dein Verstand wacht aus dem Standby-Modus auf.
Deine Erfahrung interessiert mich. Welche Ernährungsirrtümer kennst Du? Kannst Du sie auf einen der 5 genannten Mechanismen zurückführen? Schreib einen Kommentar.
Fotos: istolethetv, (Sarah Robinson), ** RCB **, Isengardt, Dusty J, ingridtaylar, jurvetson, (CC BY 2.0), Thanks to Doug Neill from thegraphicrecorder.com for the great illustration.
- z.B. D. Seubert. Macht Schokolade schlank? Shape Magazin, abgerufen 8.12.2012 [↩]