Stell Dir vor, Dein Körper ist ein Sportwagen. Kraftvoll, elegant – aber Du fährst ihn im ersten Gang durchs Leben. Warum? Weil Du den eigentlichen Motor nie wirklich nutzt: Deine Wirbelsäule.
Klingt komisch? Dann pass auf.
In diesem Artikel lernst Du ein Konzept kennen, das Deine Sicht auf Bewegung auf den Kopf stellt – wortwörtlich. Es geht um ein biomechanisches Modell namens „Spinal Engine“. Und das Spannende daran:
Das Modell erklärt, warum Deine Wirbelsäule vielleicht der eigentliche Antrieb Deiner Bewegung ist.
Und nicht, wie viele denken, nur Deine Beine oder Dein Core.
Am Ende dieses Artikels weißt Du:
- warum ein Mann ohne Beine fast wie ein normaler Mensch „laufen“ kann – und was das mit Dir zu tun hat.
- wie Deine Wirbelsäule wie eine aufziehbare Spirale Energie speichert und Dich beim Gehen, Laufen, sogar beim Werfen oder Springen unterstützt – ganz ohne dass Du es merkst.
- konkrete Tipps für Dein Training: Wie Du dieses Wissen nutzen kannst, um Dich geschmeidiger zu bewegen, Rückenschmerzen vorzubeugen und effizienter zu trainieren.
- warum viele klassische Übungen zwar gut gemeint sind – aber oft nur die halbe Wahrheit abbilden.
Wer dieses Konzept nicht kennt, läuft möglicherweise weiter mit angezogener Handbremse durchs Training.
Sicher kein Drama, aber eben auch kein Turbo.
Viel Spaß beim Hören!
Kontakt zu diesem Modell hatte ich erstmals durch den Bewegungslehrer Ido Portal, bei dem ich seit einigen Jahren in die Lehre gehe. Mein erster Gedanke: „Moment mal, das erklärt plötzlich Dinge, die ich jahrelang intuitiv spüren, aber nie wirklich greifen und erklären konnte.“
Das vollständige Konzept hat Serge Gracovetzky in seinem Buch „The Spinal Engine“ beschrieben.
Es ist beileibe kein Schnäppchen, und auch nicht immer durchgehend lieferbar.1 Das Buch ist eher was für Fitness-Nerds mit Forschergeist. Aber wenn Du der englischen Sprache mächtig bist und Bewegung wirklich verstehen willst, ist die Investition sinnvoll.
Um die Essenz des Konzepts zu erfassen, benötigst Du die Lektüre nicht zwingend. Die kennst Du am Ende dieses Artikels.
Also schnall Dich an und lockere Deine Wirbelsäule – wir werfen jetzt einen Blick unter die Motorhaube Deines Körpers.
Die „Spinal Engine“: Was macht sie so revolutionär?
Stell Dir vor, wie Du von A nach B gehst – oder läufst. Was wäre, wenn der Antrieb dazu nicht aus Deinen Beinen käme – sondern aus Deinem Rücken?
Klingt vielleicht absurd. Doch genau das postuliert der kanadische Biomechaniker Dr. Serge Gracovetsky in seinem Modell der sogenannten Spinal Engine.2 Seine Idee:
Die Wirbelsäule ist der eigentliche Motor Deiner Bewegung.
Nicht Deine Beine.
Wörtlich übersetzt bedeutet „Spinal Engine“: Wirbelsäulen-Motor. Und dieser Motor funktioniert ähnlich wie eine Spiralfeder.
Bei jedem Schritt dreht sich Deine Wirbelsäule minimal auf, speichert elastische Energie in Faszien und Muskulatur – und gibt sie dann gezielt wieder ab.
So entsteht eine rhythmische, spiralförmige Bewegung, die Deinen gesamten Körper vorantreibt. Becken und Beine sind in diesem Modell nicht die Quelle der Bewegung, sondern das Getriebe, das die Energie auf den Boden überträgt.
Am besten stellst Du Dir Deine Wirbelsäule nicht als starre Stange vor, sondern als bewegliche Spirale, die sich bei jedem Schritt diagonal aufzieht und wieder zurückschnellt.
Schwingt Dein rechtes Bein nach vorn,
rotiert Deine linke Schulter automatisch mit.
Genau dieses überkreuzte Muster ist der eigentliche Antrieb hinter Deinem Vorwärtskommen. Man nennt das auch Kreuzgang, und er ist alles andere als zufällig:
Diese gegenläufige Rotation zwischen Schulter und Hüfte ist kein Nebeneffekt, sondern elementarer Antrieb.
Lass uns einen Blick in die Tierwelt werfen. Denk an einen Jaguar, der durch die Savanne sprintet.
Die Raubkatze bewegt sich nicht mit starrem Oberkörper über ihre Beine voran, ganz im Gegenteil: Sie rollt ihren ganzen Körper auf – besonders den Rücken. Das gleiche Prinzip – wenn auch subtiler – nutzen wir Menschen beim Gehen, Laufen oder Werfen.
Ohne diese Rumpfrotation bewegten wir uns wie ein Roboter: steif und ineffizient.
Und hier kommt das Faszinierende: Die Spinal Engine ist kein Solokünstler. Sie ist eingebettet in ein Netzwerk aus sogenannten myofaszialen Ketten. Das sind Muskel-Faszien-Schlingen, die diagonal durch Deinen Körper verlaufen.3
Wenn Du Dich drehst, wirfst, läufst oder sprintest, spannen sich diese Schlingen an – etwa von der rechten Schulter zur linken Hüfte – und übertragen die Energie über die gesamte Kette. Die Wirbelsäule ist dabei der Impulsgeber, der diese Kette „zündet“. In anderen Worten:
Kraft entsteht nicht aus einzelnen Muskeln – sondern aus ihrem Zusammenspiel.
Wir können die Spinal Engine als das fehlende Puzzlestück ansehen, das erklärt, warum funktionelle Bewegung (also Bewegung aus dem ganzen Körper) so viel kraftvoller, geschmeidiger und nachhaltiger ist als die Arbeit isolierter Muskeln.
Die Wirbelsäule: Schlüssel zu mehr Leistung, weniger Schmerz und besserer Bewegung?
Vielleicht denkst Du: „Klingt alles ganz interessant, Mark. Aber was bringt mir das jetzt konkret?“ Die Antwort: eine ganze Menge.
Die Idee der Spinal Engine hilft Dir nicht nur dabei, effizienter zu laufen. Sie kann Rückenschmerzen lindern, sofort mehr Leistung geben und Deinen Alltag erleichtern.
Außerdem ist sie kein Mythos, sondern besitzt einen wissenschaftlichen Unterbau.
Wusstest Du, dass mindestens jeder fünfte Erwachsene weltweit unter Rückenschmerzen leidet? Und bei fast 80 % davon kehren die Beschwerden immer wieder zurück – Jahr für Jahr4. Die Ursache liegt oft in einem Rücken, der entweder zu steif, zu schwach oder schlichtweg falsch beansprucht wird.
Die Spinal Engine liefert uns hier eine neue Perspektive: Statt Deine Wirbelsäule nur „stabilisieren“ zu wollen, solltest Du sie auch mobilisieren und gezielt in Bewegung bringen. Denn:
Eine bewegliche Wirbelsäule verteilt Belastung besser – und schützt Dich so langfristig vor Überlastungsschäden.
Dabei geht es nicht nur um Schmerzvermeidung – sondern auch um Leistung.
In fast jeder sportlichen Bewegung steckt Rotation.
Egal ob beim Sprinten, Schlagen, Werfen oder Springen: Dein Rumpf rotiert, und das ist kein Zufall. Diese Drehung erzeugt Kraft. Ohne Rotation läuft nichts.
Versuch mal, mit komplett fixiertem Oberkörper zu sprinten. Das sieht nicht nur komisch aus, es fühlt sich auch falsch an. Dein Körper will rotieren. Und genau das macht ihn effizient.
Was uns zum nächsten Punkt bringt:
Die Spinal Engine spart Energie.
Statt mit reiner Muskelkraft gegen den Boden zu drücken, nutzt Dein Körper die gespeicherte Energie in Faszien und Bändern – wie eine gespannte Feder, die sich entlädt.
Studien zeigen: Beim Laufen kann fast die Hälfte der Bewegungsenergie aus solchen passiven Rückstellmechanismen stammen.35 Das heißt: Weniger Aufwand, mehr Output.
Diesen Effekt kannst Du in einem simplen Experiment nachvollziehen:
Fixiere Deinen Oberkörper so, dass Du ihn kaum noch drehen kannst.
Nun geh ein paar Schritte.
Spürst Du, wie unnatürlich und schwer das Gehen plötzlich wird?
Genauso geht es Menschen, die sich durch Schmerzen oder mangelnde Mobilität ständig „einschränken“.
Die natürliche Rotation fehlt. Und Dein Körper muss mit Ersatzbewegungen kompensieren.
Das kostet Energie und macht Dich langfristig anfälliger für Probleme.
All das ist auch jenseits Deines Trainings relevant. Denk an alltägliche Bewegungen: eine Tasche anheben, Dich umdrehen, zügig die Treppe hochgehen.
Alltagsbewegungen gelingen besser, wenn Deine Wirbelsäule sich mitbewegt.
Und zwar in ihrer vollen Funktion: rotierend, federnd, stabilisierend.
Die Spinal Engine ist also mehr als ein nettes theoretisches Gedankenexperiment. In meinen Augen kann sie ein echtes Power-Tool für Deinen Alltag, Deine Gesundheit und Deine Leistung sein.
Was ein Mann ohne Beine mit Deinem Bewegungspotenzial zu tun hat
Der Wissenschaftler Dr. Serge Gracovetsky präsentierte einst auf einem Kongress ein Video, das etwas Faszinierendes zeigt:
Ein Mann, der ohne Beine geboren wurde, bewegt sich fort: Er „läuft“ auf seinen Sitzbeinhöckern.
Und zwar mit einem fast perfekten Kreuzgang. Seine Hüfte pendelt, der Oberkörper rotiert gegengleich, genau wie bei einem Menschen mit Beinen.2
Wie ist das möglich? Das Modell der Spinal Engine liefert eine Antwort:
Die Wirbelsäule erzeugt durch ihre spiralförmige Bewegung den Vortrieb, auch ganz ohne Beine.
Wenn das funktioniert – wie viel Potenzial steckt dann wohl in unserer Wirbelsäule?
Gracovetsky zieht daraus eine provokante Schlussfolgerung: Wären es nur die Beine, die uns antreiben, hätten Weltklassensprinter einen winzigen Oberkörper und riesige Beine.
Nun schau Dir Usain Bolt an: Der Mann ist nicht nur schnell, er hat auch einen starken, rotierenden Oberkörper. Die Kraft kommt eben nicht allein aus den Beinen – sondern aus dem Zusammenspiel mit Rumpf und Oberkörper.
Der Körper ist ein Gesamtsystem, und der Impuls beginnt in der Mitte.
Ein weiteres Bild, das das verdeutlicht: Du kannst Dir Deinen Körper nicht als lineare Maschine vorstellen, sondern als Drehfeder. Wie ein Springseil, das seine Stabilität aus der Rotation bezieht. Mit jedem Schritt, jedem Armzug, jeder Rotation ziehst Du die Drehfeder auf – speicherst Kraft – und entlädst sie dann kontrolliert in den nächsten Bewegungsimpuls.
Wir sprechen hier auch von einem „Spiraling Spring System“, ein spiralförmiges Federsystem, das Deinen Gang antreibt.
Und das Faszinierende: Sobald Du einen Blick dafür entwickelst, kannst Du es bei Spitzenathleten überall beobachten.
David Weck, Trainer und Entwickler des BOSU-Balls, analysierte stundenlang Videos von Weltklasse-Sprintern. Er stellte fest:
Die besten Athleten lehnen ihren Oberkörper beim Laufen minimal über das stützende Bein. Sie nutzen genau diese Spiralrotation als Antrieb.
Weck nennt das Prinzip „Head over Foot“. Es widerspricht dem klassischen „Oberkörper gerade halten“-Mantra, funktioniert aber. Und zwar messbar.
Er erklärt sein Konzept in diesem Video.
Die menschliche Bewegung wirkt dadurch fast katzenartig: elegant, effizient, geschmeidig. Wie bei einer Raubkatze, die sich durch Rotation durch den Raum schraubt.
Die gute Nachricht ist die These, die sich daraus für uns ergibt:
Du hast mehr Power, als Du denkst.
Du musst sie nur freisetzen. Die Spinal Engine kann dabei Dein Zündschlüssel sein.
So setzt Du die Spinal Engine in Deinem Training gezielt ein
Jedes noch so schöne Wissen bringt Dir nur dann etwas, wenn Du es auch anwendest. Hier ist ein Überblick über die wichtigsten Prinzipien und Übungen, mit denen Du das Konzept der Spinal Engine Schritt für Schritt in Dein Training und Deinen Alltag integrieren kannst.
1. Kontrollierte Rotation Deiner Wirbelsäule
Viele klassische Core-Übungen – Planks, Crunches, Beinheben – trainieren Deine Rumpfstabilität. Das ist gut. Und:
Dein Körper will sich nicht nur stabilisieren, er will sich auch drehen.
Wenn Du Rotation immer außen vorlässt, verkümmert diese Fähigkeit. Und damit auch ein riesiges Kraft- und Koordinationspotenzial.
Am besten baust Du deshalb regelmäßig rotierende Bewegungen ein – idealerweise kontrolliert und langsam. Dazu gehören übrigens auch Übungen mit asymmetrischen Belastungen, die die Rotation der Wirbelsäule verhindern.
Hier sind ein paar Beispiele:
- Renegade Rows
- Russian Twists mit Fokus auf Spannung, nicht auf Schwung.
- Wood-Chops am Kabelzug (von oben nach unten und umgekehrt).
- Kettlebell-Windmills.
- Gewichtsverlagerungen von einem Bein aufs andere – mit Körpergewicht und (nach rechts, links, vorn, hinten) gebeugter Wirbelsäule.
2. Trainiere die Diagonalen, nicht (nur) die Geraden.
Der Körper funktioniert in diagonalen Ketten. Deshalb ergibt es wenig Sinn, nur „gerade hoch, runter, vor und zurück“ zu trainieren.
Integriere Übungen, bei denen sich Arme und Beine über Kreuz bewegen. So, wie es Dein Körper im Alltag ohnehin tut.
Beispiele:
- Einarmiges Kurzhantelrudern
- Einarmiges Überkopfdrücken mit der Kurzhantel (fürs Video etwas runterscrollen)
- Bird Dog
- Kreuzheben auf einem Bein
- Krabbeln im Vierfüßlergang – übrigens auch eine hervorragende Übung fürs Warm-Up
- Farmers Walks mit einseitigem Gewicht
Solche Bewegungen aktivieren Deine Spinal Engine ganz automatisch – ohne dass Du viel darüber nachdenken musst.
3. Bring Deine Wirbelsäule zum Fließen.
In unserer heutigen Gesellschaft besitzen viele Menschen eine „steife Mitte“. Meist liegt es am vielen Sitzen, oft auch an einseitiger Belastung oder einseitigem Training. Langfristig hat all das den gleichen Effekt:
Die Rotation wird vom Körper vermieden oder durch Ausweichbewegungen kompensiert.
Wie durchbricht man diesen Teufelskreis? Eine Möglichkeit ist die sogenannte Spinal Wave. Dabei trainierst Du, Deine Wirbelsäule Segment für Segment durchzubewegen: von unten nach oben und wieder zurück.
Wie das funktioniert, zeigt Ido Portal in diesem kurzen Video.
Anfangs fühlt sich das ungewohnt an. Da die wenigsten von uns bisher gelernt haben, die vielen kleinen Muskeln der Wirbelsäule gezielt anzusprechen, erfordert es auch etwas Übung.
Aber:
Je eher Du lernst, diese Bewegung zu kontrollieren, desto freier und gesünder bewegt sich Dein ganzer Körper.
Auch Yoga-Flows, Cat-Cow, Faszienrollen entlang der Wirbelsäule oder „Rolling Patterns“ aus dem Functional Movement Training können Dir dabei helfen, die Beweglichkeit Deiner Wirbelsäule gezielt zu erhalten und zu verbessern.
4. Koordination kommt vor Kraft.
Viele unterschätzen, wie stark Koordination die Kraftentfaltung beeinflusst.
Du wirst automatisch stärker, sobald Deine Wirbelsäule mit Schultern, Hüften und Beinen zusammenarbeitet wie ein gut eingespieltes Team.
Das unten gezeigte Prinzip „Head over Foot“ von David Weck ist ein anschauliches Beispiel.
Vielleicht probierst Du es beim Laufen oder Sprinten mal ganz bewusst aus:
- Neige den Oberkörper minimal über das stützende Bein.
- Spüre die Gegenrotation in Schultern und Hüfte.
Die meisten Menschen stellen dann Folgendes fest: Dein Körper wird plötzlich leichter, der Schritt runder, weil Du ihn natürlicher nutzt.
5. Beweg’ Dich wie ein Mensch – nicht wie eine Maschine.
Der vielleicht wichtigste Gedanke ist dieser:
Du beginnst, in Bewegungsmustern zu denken, anstelle ausschließlich in Muskelgruppen.
Dein Körper funktioniert dreidimensional. Und Dein Training sollte das auch abbilden.
Steve Gracovetsky würde es vermutlich so ausdrücken:
Deine Spinal Engine arbeitet immer.
Die Frage ist, ob Du sie unterstützt oder blockierst.
Wie wäre es also, wenn Du ab sofort mehr Bewegungsspielraum zulässt – eine Wirbelsäule, die mehr federt und mehr rotiert?
Wenn Du mich fragst, ich bin überzeugt: Dein Rücken wird es Dir danken. Und Dein Körpergefühl auch.
Wo Gracovetzkys Modell an seine Grenzen stößt – und warum es trotzdem so wertvoll ist
Klingt alles fast zu gut, um wahr zu sein, oder? Ein Modell, das Rückenschmerzen erklärt, Bewegung effizienter macht, Leistung steigert – und dabei noch so eingängig ist.
Wie bei jedem Modell gilt auch hier:
Ein Modell ist IMMER eine vereinfachte Darstellung der Realität.
An der Grenze zur meist unendlich komplexen Realität entstehen dadurch immer Unschärfen und Limitierungen, die Du kennen solltest.
Außerdem gibt es auch Kritiker der Spinal Engine. Der wohl bekannteste ist der Rückenforscher Prof. Stuart McGill.6 Aus seiner Sicht ist die Wirbelsäulenmuskulatur nicht stark genug, um den gesamten Körper voranzutreiben.
McGill sieht die Wirbelsäule eher als „Übertragungsbrücke“: Die Beine erzeugen die Kraft, Rumpf und Wirbelsäule leiten sie weiter.
Was heißt das für Dich? Wahrscheinlich liegt die Wahrheit – wie so oft – irgendwo dazwischen.
In meinen Augen ist die Spinal Engine gerade deshalb so nützlich, weil sie die Rolle der Wirbelsäule überzeichnet.
Dadurch ist sie in der Lage, unsere bisherige Sichtweise zu erweitern. Und das tut sie verdammt gut.
Zweitens können wir feststellen:
Nicht jede Bewegung profitiert von Rotation.
Denk ans Kreuzheben oder, ganz generell, das Hochheben schwerer Dinge. Wer 150 kg vom Boden anheben will, benötigt dazu keine rotierende Sprungfeder im Rücken. Sondern einen stabilen, neutralen Rumpf.
Für Szenarien wie dieses ist die Spinal Engine nicht der richtige Ansatz. Hier gilt: Stabilität kommt an erster Stelle!
Außerdem ist nicht jede Wirbelsäule (sofort) auf Rotation belastbar.
Das gilt zum Beispiel nach Operationen, bei strukturellen Einschränkungen oder chronischen Beschwerden.
Die Idee der Spinal Engine setzt eine gewisse Mobilität und Grundkraft voraus.
Solange beides (noch) nicht gegeben ist, sollte man das Training entsprechend anpassen. Dann ist es sinnvoll, zunächst einmal Stabilität und Kraft aufzubauen, bevor man eine geschmeidige Rotation übt.
Ein Modell, egal welches, als alleinige Wahrheit zu behandeln, führt in die Sackgasse.
Übrigens hat Gracovetsky selbst nie behauptet, die Beine seien unwichtig. Er wollte lediglich zeigen, dass wir einen zentralen Bewegungsimpuls im Rücken haben, den viele ignorieren.
Wer sein Modell zu einseitig interpretiert, läuft Gefahr, bewährte Trainingsprinzipien voreilig über Bord zu werfen.
Die Spinal Engine ERSETZT Deine Perspektive nicht, aber sie kann sie ERGÄNZEN.
Die Spinal Engine hat, wie jedes Modell, ihre Grenzen – und die sollten wir kennen und berücksichtigen. Tun wir dies, liefert sie uns in vielen Situationen das fehlende Puzzlestück für mehr Kraft, Stabilität und Power im Training – und außerhalb.
Fazit
Vielleicht hat das Modell, das Du gerade kennengelernt hast, auch Deine Sichtweise auf die menschliche Bewegung verändert. Lass uns dabei bedenken:
Die Spinal Engine ist kein Dogma. Sondern eine Einladung, Deinen Körper neu zu verstehen.
Ihr Kerngedanke ist simpel: Bewegung beginnt nicht am Boden. Sie beginnt in der Mitte. In Deiner Wirbelsäule. Dort, wo Rotation, Elastizität und Koordination zusammentreffen. Dort, wo Kraft nicht nur entsteht, sondern intelligent koordiniert wird.
Das Modell ist vielleicht gerade deshalb so stark, weil es nicht perfekt ist. In vielen Situationen überzeichnet es die Rolle der Wirbelsäule. Aber wer sich damit beschäftigt, sieht umso klarer, wo ihr Einfluss bisher übersehen wurde.
Was uns zurück zum Ausgangspunkt bringt:
Alle Modelle sind falsch, aber einige sind nützlich.
Aus meiner Sicht ist die Spinal Engine ein nützliches Modell.
Es besagt im Wesentlichen drei Dinge:
- Deine Wirbelsäule ist nicht nur Stabilitätszentrum, sie ist ein Bewegungsgenerator.
- Wenn Du die natürlichen Spiralfederbewegungen zulässt und trainierst, bewegst Du Dich effizienter, geschmeidiger und sicherer.
- Funktionelle Kraft entsteht nicht isoliert, sie entsteht im Zusammenspiel. Und die Spinal Engine zeigt Dir genau, wie das funktioniert.
Falls Du tiefer einsteigen willst: Das Buch The Spinal Engine von Serge Gracovetsky ist eine lohnenswerte, wenn auch anspruchsvolle Investition. Es ist nicht billig, und es ist keine leichte Lektüre – aber es liefert Dir die biomechanischen Hintergründe zu allem, was Du hier gelesen hast.
Es ist doch so: Wenn Du verstehst, wie Dein Körper wirklich funktioniert, kannst Du smarter trainieren.
Dann kannst Du Rückschlägen gelassener begegnen.
Dann kannst Du langfristig dranbleiben.
Nicht, weil Du musst. Sondern weil Du merkst: Es fühlt sich richtig gut an!
Also lade ich Dich ein: Wie wäre es, wenn Du Deine Wirbelsäule vom Statisten zum Hauptdarsteller machst? Wenn Du anfängst zu beobachten, wie Du gehst, wie Du stehst, wie Du Dich drehst?
Diese Bewusstheit macht vielleicht schon den entscheidenden Unterschied.
Frage: Hast Du eine Übung oder Bewegung, bei der Du Deine Wirbelsäule bewusst als Antrieb spürst? Was hat Dich beim Lesen am meisten überrascht – und was möchtest Du in Deinem Training ausprobieren? Schreib einen Kommentar.
- Ich vermute, der Verlag druckt immer nur ein paar Dutzend Exemplare nach, sobald das Lager leer ist. Mein Exemplar war jedenfalls beim ersten Versuch nicht lieferbar, ein paar Monate später allerdings dann schon. [↩]
- Gracovetsky, Serge (2009). The Spinal Engine. [↩] [↩]
- Myers, T.W. (2022). Anatomy Trains: Myofasziale Leitbahnen für Manual- und Bewegungstherapeuten (4. Aufl.). Elsevier. [↩] [↩]
- Santaguida, P.L. et al. (2008). Predictors of back pain in healthy working adults: A systematic review. Occupational Medicine, 58(3), 180–192. [↩]
- Schleip, R. et al. (2020). Lehrbuch Faszien: Grundlagen, Forschung, Behandlung. Elsevier. [↩]
- McGill, S.M. (2007). Low Back Disorders: Evidence-Based Prevention and Rehabilitation. Human Kinetics. [↩]



